Dienstag, 17. August 2010
In uns eine Kraft...
In uns ist eine Kraft
Tief unten im Meer, unsichtbar für die Augen der Menschen,
lag unter einer Seeanemone eine alte Auster mit ihrem kleinen
Enkel.
Sie hatten eine weite Reise hinter sich, und nun waren sie müde und
ruhten sich aus.
Der kleine Biwak war bald wieder munter, und es war ihm zu
langweilig so ruhig dazuliegen.
„Großmutter“, sagte er deshalb, „bitte erzähle mir eine Geschichte.“
Dann rückte er näher zu ihr.
Aber es war seltsam, die Großmutter regte sich gar nicht –
und auf einmal hörte Biwak, dass sie stöhnte.
„Großmutter“, fragte Biwak ängstlich, „was ist denn, was hast du denn?“
„Das Sandkorn, Biwak, es ist ein Sandkorn, mach dir keine Sorgen,
es wird bald wieder besser“, sagte die Großmutter leise.
Biwak aber machte sich Sorgen.
Als es ihr besser ging, begann
die Großmutter zu erzählen.
„Du weißt, dass wir zur Familie der Biwaansterne gehören,
deshalb hast du auch den Namen Biwak bekommen.
Wir sind etwas ganz Besonderes, wir sind Perlmuscheln.
Wir haben eine Kraft in uns, die keine andere Muschel hat.“
Das ist unser Reichtum und unser Schmerz zugleich.
„Wenn wir Muscheln uns öffnen, um Nahrung zu holen oder um all die Schönheiten des Lebens zu sehen, zu entdecken, kann es geschehen, dass trotz all unserer Vorsicht ein Sandkorn in unser Haus gelangt. Und weil unser Körper so weich und verletzlich ist, tut das sehr weh, denn ein Sandkorn gräbt sich tief ein und verletzt uns.“
„Großmutter“, sagte Biwak ganz entsetzt, „dann mach ich mein Haus nicht mehr auf.“
Die Großmutter sah ihn zärtlich an.
„Das geht nicht. Wenn du dein Haus zulässt, verhungerst du,
du stirbst langsam aber sicher hinter deiner dicken Schale.“
„Dann spuck ich das Sandkorn einfach aus“, sagte Biwak heftig.
„Auch das geht nicht“, sagte die Großmutter.
„Das Sandkorn werden wir nie wieder los.
Aber in uns ist eine wunderbare und geheimnisvolle Kraft am Werk, die aus dem Sandkorn eine Perle werden lassen kann.
Und je länger wir das Sandkorn in uns tragen,
desto schöner wird die Perle, die daraus entsteht.
Sie trägt immer mehr die Farbe deines Hauses,
dein eigenes Leben spiegelt sich darin,
es wird deine Perle, wie nur du sie hervorbringen kannst
und es gibt keine Perle, die der anderen gleicht.“
Biwak staunte. „Großmutter, bitte zeig mir deine Perle,
ich möchte sie so gerne sehen.“
„Das geht nicht“, antwortete die Großmutter, „erst wenn wir tot sind,
wird sichtbar, was in uns gewachsen ist, wie reich unser Leben war,
wie viele Sandkörner zu Perlen werden konnten.“
„Aber Großmutter, dann nützt es doch gar nichts,
wenn wir Perlen in uns haben, die niemand sieht,
die nur weh tun.“
„Ja, so habe ich auch gedacht“, sagte die Großmutter
„als ich so klein war wie du.
Und niemand kann es erklären.
Aber ich glaube, dass eine Muschel, die die Schmerzen der Sandkörner ausgehalten hat, eine wertvolle Muschel ist, deren Leben Sinn hat.
Wenn wir keine Perle in uns tragen, bleibt unser Leben arm und leer.
Wenn wir Schmerzen vermeiden wollen, können wir nicht den Reichtum und die Schönheit des Lebens entdecken.
Und – wer selber Schmerzen litt, der wird zu den anderen Geschöpfen liebevoller und barmherziger sein.
Ich habe das oft erlebt.
Wünsch dir nicht, kleiner Biwak, dass kein Sandkorn in dich dringt.
Öffne dein Haus weit,
freu dich an allem, was das Leben dir schenkt und für dich bereit hält.
Und wenn der Schmerz in dich dringt, dann nimm ihn an.
Vertrau darauf, dass er sich verwandeln wird in eine kostbare Perle.
Eine Perle, die auch dann noch bleibt,
wenn unser Körper längst vergangen ist.
Perlen, die in uns wachsen, sind unsterblich.“
Quelle unbekannt
Gelassenheit
Es war einmal ein Fischer, der neben seinem Fischerboot seine Siesta hielt. Er schaute aufs tiefblaue Meer, hörte dem leisen Rauschen der Wellen zu und schlief dann friedlich im schützenden Schatten seines Bootes ein.
Nach einiger Zeit kam in der heißen Mittagszeit ein Tourist vorbei, bewaffnet mit einer Kamera, und bestaunte den Fischer. Er zückte seine Kamera und begann, den Fischer von allen Seiten zu fotografieren. Von dem Klicken der Kamera wachte der Fischer auf und öffnete langsam seine Augen, um zu sehen, wer ihn denn bei seiner wohlverdienten Siesta störte. Als er den Touristen erblickte, bot er ihm eine Zigarette an und fragte ihn mit einem Lächeln, warum er ihn denn so oft fotografiert habe.
Der Tourist antwortete: „Ich habe mich gefragt, woher Sie die Ruhe nehmen, sich mitten am Tag hier auszuruhen. Warum fahren Sie nicht hinaus, um Fische zu fangen? Sie müssen doch auch Geld verdienen, um Ihre Familie zu ernähren!“
Der Fischer zuckte nur mit den Schultern und antwortete: „Ich bin heute morgen schon hinausgefahren und habe einen guten Fang gemacht.“
Doch der Tourist ließ nicht locker: „Aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich noch einmal rausfahren. Sie könnten dann noch mehr Fische fangen und diese vielleicht für schlechtere Zeiten einfrieren ...“
Der Fischer lächelte noch einmal, und bevor er antworten konnte, fuhr der Tourist fort: „Stellen Sie sich doch einmal vor: Wenn Sie öfter am Tag rausfahren würden, könnten Sie die ganzen Fische, die Sie fangen, verkaufen und sich schon bald ein zweites Fischerboot zulegen. Und die Fische, die Sie dann mit beiden Fischerbooten fangen, könnten Sie wieder für gutes Geld verkaufen. Auf das zweite Boot würden ein drittes, ein viertes und noch viele mehr folgen. Auf diese Weise könnten Sie dann schon bald eine ganze Fischerflotte aufs Meer schicken. Und in ein bis zwei Jahren, wenn Ihnen dann vielleicht alle Boote hier auf der Insel gehören, kaufen Sie sich einen Hubschrauber und kontrollieren dann nur noch Ihre Fischerboote, die auf dem Meer die Arbeit für Sie erledigen. So bräuchten Sie bald fast gar nicht mehr zu arbeiten und könnten sich ausruhen und Ihr Leben genießen ...“
Der Fischer hob seine Augenbrauen, lächelte und antwortete gelassen: „Aber das tue ich doch jetzt schon ...“